Experteninterview
„Die Lage des zivilgesellschaftlichen Engagements in der ersten Phase der Coronakrise“
Das bundesweite Ehrenamt zeigte sich in der Corona-Krise lokal kreativ, finanziell unter Druck und digital herausgefordert zugleich. Zu diesem Studienergebnis kommt das Forscher*innen-Team des ZiviZ (Zivilgesellschaft in Zahlen) im Stifterverband.
Ob Einkaufshilfen, quartiersgebundene Sachspendenaktionen, Mittagessenlieferungen oder spontane Onlinekurse – in vielen Kommunen organisier(t)en Ehrenamtliche die lokale Nachbarschaftshilfe.
Im Interview erklärt uns Dr. Holger Krimmer, Mitglied der Geschäftsleitung des Stifterverbandes und Geschäftsführer der ZiviZ gGmbH im Stifterverband, wie es um das Ehrenamt steht.
Ehrenamt Agentur (EAE): Herr Dr. Krimmer, schon früh haben Sie die Lage des Ehrenamts in der ersten Corona-Phase in den Blick genommen. Wie kam es zu der Studie?
Dr. Holger Krimmer (HK): Der Ruf nach politischer Unterstützung und das Fehlen von gesicherten Erkenntnissen über die Lage von gemeinnützigen Organisationen vor Ort begleiten die Corona-Krise vom ersten Tag an. Diese Lücke zu schließen war unser Ziel. Dass das nicht mit einer einzelnen Studie gelingen kann war gleichzeitig auch klar.
Deshalb setzen wir unsere erste Studie jetzt auch durch eine Reihe von Folgebefragungen fort, um Aufklärung über die Frage zu ermöglichen, wo und wie Zivilgesellschaft am Dringendsten Hilfe benötigt.
EAE: Sie kommen zu dem Schluss, dass das Ehrenamt bundesweit einen systemrelevanten Beitrag für eine erfolgreiche Bewältigung der Krise leistet. Gleichzeitig steht die engagierte Zivilgesellschaft teils starken Gefährdungen und Herausforderungen gegenüber. Wo sehen Sie Probleme – akut und in naher Zukunft?
HK: Erstens waren zuerst Akteure von der Krise betroffen, die sich überwiegend aus selbsterwirtschafteten Mitteln finanzieren, also Kursgebühren, Eintrittsgeldern, Veranstaltungseinnahmen und ähnlichem. Zu nennen sind hier zum Beispiel Soziokulturelle Zentren, Bildungswerke oder Stadtteilzentren, die viele Einnahmen aus Veranstaltungen generieren.
Der Lockdown führte hier zu einem kompletten Einnahmeausfall und brachte die Akteure rasend schnell in existenzielle Krisen. Zweitens: Mittel bis langfristig werden finanziell auch diejenige betroffen sein, die zum Beispiel von Unternehmensspenden oder auch aus Mitgliedschaftsbeiträgen ihre Arbeit finanzieren. Die schlechte wirtschaftliche Lage in 2020 wird aller Voraussicht nach dazu führen, dass Unternehmen in 2021 ihre Sponsoring Aktivitäten nicht im gleichen Maße fortsetzen werden.
Wenn die Krise Privathaushalte stärker erreicht, ist zudem zu befürchten, dass auch Mitgliedschaften häufiger in Frage gestellt werden. Dramatisch könnte das werden, wenn sich ab 2021 ein Mitgliederschwund in Vereinen abzeichnet. Drittens, das wird mittlerweile an vielen Stellen betont, brauchen viele Organisationen dringend Unterstützung in Fragen der Digitalisierung ihrer Arbeit.
EAE: „Ehrenamt braucht Hauptamt“ hat sich auch in dieser Krise bestätigt. Welche Rolle spiel(t)en die sogenannten „engagementfördernden Infrastruktureinrichtungen“ bzw. Freiwilligenagenturen?
HK: Ich will hier vor allem auf deren zukünftige Rolle eingehen. Die in Organisationen angestoßenen Digitalisierungsprozesse werden den gemeinnützigen Sektor und das bürgerschaftliche Engagement noch lange begleiten. Die Beratungs- und Kompetenzbedarfe sind riesig.
Die einzig schlüssige Antwort dazu kann nur sein, zumindest mittelfristig die dezentralen Beratungskapazitäten so genannter Infrastruktureinrichtungen in diesem Thema so aufzubauen, dass vor Ort Kompetenz vorhanden ist. Das wird auch für Freiwilligenagenturen, Mehrgenerationenhäuser, Seniorenbüros und andere Organisationen keine leichte Aufgabe werden.
EAE: Auch die engagierte Zivilgesellschaft unterliegt der „digitalen Transformation“, also einem in digitalen Technologien begründeten Veränderungsprozess, und muss sich neu aufstellen. Wie reagierte das Ehrenamt auf diese Herausforderungen?
HK: Es ist kein Geheimnis, dass Digitalisierung häufig nicht das Lieblingsthema im Engagement war. Doch die Fortschritte, die vielerorts in kurzer Zeit erreicht wurden, sind beachtlich. Ein schöner Begleiteffekt: die Kompetenzen, die häufig bei jüngeren Engagierten liegen, gewinnen an Bedeutung.
Das führt auch zu einem neuen Dialogstrang zwischen Jung & Alt in Vereinen und einer (gefühlten) Aufwertung junger Engagierter.
EAE: Was braucht es jetzt und im kommenden Jahr, um Zivilgesellschaft zu stärken?
HK: Das ist momentan noch gar nicht so genau zu sagen. Um nur ein Beispiel zu nennen. Bisherige Hilfsprogramme versuchten ihr Fördervolumen meist möglichst breit zu streuen. Dazu wurde der höchste für eine einzelne Organisation abrufbare Betrag gedeckelt.
Es könnte sein, dass solche Maßnahmen an den zivilgesellschaftlichen Bedarfen stark vorbei gehen. Das wäre etwa dann der Fall, wenn Organisationen mit starken Ausnahmefällen vor allem sehr große Organisationen sind, denen mit 15-20.000 Euro Soforthilfe im Zeitraum eines halben Jahres nun mal nicht geholfen ist. Andererseits kleinere Organisationen in Sachen Finanzierung gar nicht so große Probleme haben.
Um hier eine bessere Erkenntnislage herbeizuführen braucht es zwei Dinge: Mehr wissenschaftliche Aufklärung und insbesondere eine Zivilgesellschaft, die eine starke Stimme hat und sich im öffentlichen Raum klar vernehmbar artikuliert. Das ist eine wichtige Aufgabe auch von Freiwilligenagenturen und Netzwerken.